Lian Bichsel: Ein Riese erobert Texas
Lian Bichsel ist das derzeit vielversprechendste Talent im Schweizer Eishockey – und der einzige Schweizer NHL-Erstrundendraft in den letzten sieben Jahren.

Alles ist grösser in Texas, besagt ein Bonmot, und es stimmt ja auch: Die Autos, die Steaks und die Egos sind gewaltig im zweitgrössten Bundesstaat der USA; einzig Alaska ist noch weitläufiger.
Aber seit der dreifache East Coast Hockey League-Champion Alaska Aces 2018 nach Maine umgesiedelt wurde, gibt es dort kein in den höchsten drei Ligen vertretenes Eishockeyteam mehr.
Lian Bichsel passt optimal in diese Hochburg des Gigantismus – schon nur körperlich. Zwei Meter misst er inzwischen, und er bringt 105 Kilo auf die Waage. Bichsel, 20, würde problemlos als American-Football-Linebacker durchgehen, der am College von Texas Tech studiert.
Stattdessen ist der Solothurner das wichtigste Talent im Schweizer Eishockey. Die Dallas Stars wählten ihn im Draft von 2022 in der ersten Runde an 18. Stelle aus. Am 12. Dezember feierte er gegen die Nashville Predators sein NHL-Debüt – und traf auf Anhieb.

Der Puck wurde eingerahmt und von der Liga in einem schmucken Display nach Hause geliefert. «Fast surreal» sei der Tag gewesen, sagt Bichsel.
Er kam unter anderem in den Genuss der «Rookie Lap», einer schönen NHL-Tradition, bei welcher ein Debütant vor seinem ersten Einsatz als Erster und alleine aufs Eis darf.
«Ich konnte an diesem NHL-Leben schnuppern, von dem jeder Hockey-Profi träumt. Es gibt schlicht nichts Besseres», sagt Bichsel.
Weil der Konkurrenzkampf in der Abwehr der Stars enorm ist, wurde Bichsel nach zehn Einsätzen wieder in die AHL zu den in der Nähe der Kulturmetropole Austin beheimateten Texas Stars geschickt.
Es sei eine Versetzung auf Zeit, er solle am Spiel mit der Scheibe arbeiten. Im Farmteam gehörte Bichsel zu den Führungsspielern, im Januar wurde er für das All Star Game der AHL nominiert.
Am 23. Januar ging es wieder nach oben, nach Dallas, wo Bichsel in einem Hotel einquartiert ist. Wer weiss, für wie lange.
Schon als Teenager alleine in Schweden
Hinter Bichsel liegen also bewegte Wochen als SLAPSHOT ihn Ende Januar per Whatsapp-Anruf erreicht.
Er befinde sich auf dem Weg ins Training, berichtet Bichsel, gerade habe er sich von der WG – er teilt sich ein Appartement mit dem (Ende Januar ebenfalls in die NHL beorderten) Tschechen Matej Blümel und dem Kanadier Chase Wheatcroft.
Das Trio kocht oft gemeinsam, regelmässig gibt es Barbecue. Bichsel sagt: «Wir haben einen guten Zusammenhalt, es macht Spass. Aber ich bin eigentlich auch ganz gerne alleine, darum ist jetzt schon klar, dass das die letzte Saison ist, in der ich einer WG lebe.»

Bichsel hat sich an eine gewisse Eigenständigkeit gewöhnt. Schon mit 17 wechselte er von Biel nach Schweden zu Leksands, weil er dort die besten Entwicklungsmöglichkeiten sah. Er lernte, Verantwortung für sich selber zu übernehmen.
Und reifte unter dem Trainer Björn Hellkvist zum Erstrundendraft. Nachdem schwedische Zeitungen Bichsel fast ehrfüchtig mit dem Star-Verteidiger Victor Hedman verglichen, sagte Hellkvist: «Für sein Alter hat Lian schon ein eher grösseres Spielverständnis.»
Er ist nicht der einzige, der reichlich Komplimente für den jungen Abwehrspieler übrig hat. Jim Nill, der General Manager der Dallas Stars, sagte im Sommer: «Wahrscheinlich wäre er bei der Mehrzahl der Teams schon länger in der NHL.
Aber wir hatten nicht viele verletzte Spieler. Wir wussten nicht recht, was wir von ihm erwarten können, nachdem er letztes Jahr in Schweden gespielt hatte.
Aber er kam ins Vorbereitungscamp und war dort unser strahlendes Licht. Er hat die Erwartungen übertroffen.»

Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis Bichsel sich dauerhaft in der NHL etabliert. Er selbst sagt: «Ich bin bereit und habe in meinen ersten zehn Spielen gezeigt, dass ich das Niveau habe.
Aber es ist mir ehrlich gesagt lieber, dass ich bei einem Top-Team um meinen Platz kämpfen muss als in einer Organisation zu spielen, die keinerlei sportliche Perspektiven hat und in der es nur darum geht, die 82 Spiele abzuspulen. Das Ziel ist der Stanley Cup.»
Der «Coffee Club» von Cedar Park, Texas
Zudem: In der Organisation der Stars lässt es sich aushalten. Die berühmt-berüchtigten AHL-Bus-Trips von 20 und mehr Stunden gibt es hier nicht.
Die Reisen an die Auswärtsspiele werden per Flugzeug zurückgelegt; Bichsel sagt, er sei hier noch nie länger als vier Stunden in einem Car gesessen.
Und die schlimmste Absurdität des AHL-Spielplans – drei Spiele in drei Tagen – steht für die Stars nur einmal auf dem Programm. Mit etwas Glück befindet sich Bichsel dann ohnehin in Dallas.
Grundsätzlich behagt ihm das Arbeitsumfeld aber auch in der AHL, er sagt, es fehle ihm an nichts. Und dass er das Klima schätze, die reichlich vorhandenen Sonnenstunden. Die Tage verbringt er mit Training und im Kraftraum.
«Ich bin bereit und habe in meinen ersten zehn Spielen gezeigt, dass ich das Niveau habe», sagt Lian Bichsel.
Allzu viel Zeit für Hobbies bleibt nicht, aber Bichsel liest gerne Bücher zu den Themen Investments und Finanzen. Wenn in der WG auf der Konsole «NHL 25» gezockt wird, widmet Bichsel sich lieber der Lektüre.
Er sagt: «Ich bin nicht der Gamer. Ich glaube, ich habe letztmals vor fünf Jahren irgendwas gespielt».

Dafür hat er einen bemerkenswerten Eifer für das Thema Kaffee entwickelt. «Ich kaufe in einem Fachgeschäft die Bohnen, mahle sie dann selbst und bereite den Kaffee in einem Filter zu. Selbstverständlich ohne Zusätze wie zum Beispiel Milch.
Das dauert zwar ein bisschen, aber es lohnt sich», sagt er lachend. Und ergänzt, dass er mit mehreren AHL-Teamkollegen einen Kaffeeklub gegründet hat. In der Kabine wird erst verkostet und dann mit Kennermiene fleissig analysiert.
Bichsel stammt aus einer sehr sportlichen Familie
Auch mit der Familie tauscht er sich regelmässig aus – so gut das bei den sieben Stunden Zeitverschiebung. Bichsel stammt aus einer Sportlerfamilie, deren Mitglieder bemerkenswerte Erfolge vorweisen können.
Der Vater André hat 32 Handball-Länderspiele bestritten. Die Mutter ist eine versierte Volleyballerin. Der drei Jahre jüngere Bruder Finn verteidigt bei den Elite-Junioren des EHC Biel und gehört zur U18-Nationalmannschaft.

Und der 22-jährige Bruder Joel ist als Innenverteidiger Stammspieler beim deutschen Fussball-Traditionsverein 1. FC Saarbrücken, der inzwischen in der dritten Liga angekommen ist. «Wir sind eigentlich eine ganz normale Familie», versichert Lian Bichsel lachend, und fügt dann an: «Aber in unserem Familienchat ist punkto Sport schon immer etwas los.»
Sehr weit weg scheint in Bichsels Leben derzeit der unselige Clinch mit Swiss Ice Hockey. Bichsel wird vom Verband bekanntlich bis und mit der Heim-WM 2026 nicht mehr nominiert.
Der Musterprofi hat sich keine disziplinarischen Verfehlungen geleistet, sondern Aufgebote für die U-20-WM ausgeschlagen. Der Hintergrund beim letzten Turnier: Bichsel wechselte 2023 zu Rögle und zog Einsätze in der höchsten schwedischen Liga der Junioren-WM vor; er sorgte sich, dass eine Abwesenheit von mehreren Wochen seine Position im Klub schwächen würde.
Es ist eine stringente Argumentation, für die Bichsel mit seinem Aufstieg in die NHL jetzt recht erhalten hat.

Die Haltung des Verbands ist seit Beginn der Ära Fischer: Wer Aufgebote ausschlägt, wird auf Sicht nicht mehr nominiert. Grundsätzlich ist das eine einleuchtende Regel.
Sie hat dafür gesorgt, dass bei den Spielern der A-Nationalmannschaft nicht mehr das Lustprinzip gilt. Nach dem Motto: WM in Herning? Lieber nicht. Nächstes Jahr Heim-WM? Dann gerne.
Nur: Es gibt immer wieder nachvollziehbare Absagen, die ohne Konsequenzen bleiben. Wenn NHL-Spieler über keinen weiterführenden Vertrag verfügen und kein Verletzungsrisiko eingehen wollen.
Auch das ist legitim und eine nachvollziehbare Ausnahme. Swiss Ice Hockey beweist in jenen Fällen gesunden Menschenverstand.
Es ist erstaunlich, dass im «Fall Bichsel» alle Schlichtungsversuche gescheitert sind. Am Ende des Tages schwächt sich das Nationalteam mit diesem Entscheid selbst.

Bichsel sagt, er habe zu dieser Angelegenheit eigentlich nicht mehr viel zu sagen, nur so viel: «Ich konzentriere mich auf meine Ziele in den USA. Alles andere regelt mein Agent.»
Angesichts seines rasanten Aufstiegs in den letzten Jahren scheint das eine ziemlich kluge Lösung zu sein.
Über Lian Bichsel
Geboren: 18. Mai 2004. Grösse: 200 cm. Gewicht: 105 kg. Position: Verteidiger. Vertrag 2024/25: NHL-Salär: 950'000 Dollar. AHL-Salär: 82'500 Dollar.
Stationen: Dallas Stars, Texas Stars, Rögle BK, Leksands IF, EHC Biel, EHC Olten. Draft: 1. Runde, Nr. 18, 2022 Dallas Stars.