Corsin Camichel: «…dann suchen die Spieler einen Miraculix»
Corsin Camichel gehörte zum Inventar der National League. Er überstand eine Krebserkrankung und den Verlust von Vater und Bruder. Nun ist er Mentaltrainer.
Als Spieler war Corsin Camichel eine zähe Flügelfräse, die es beim HC Ambrì-Piotta zum Publikumsliebling und zu drei Länderspielen brachte.
Er fand in der Leventina auch deshalb Anklang, weil er war wie die Menschen in der Leventina: ein etwas verschrobener Bergler mit dem Herz am rechten Fleck.
Camichel, heute 42, bestritt in der Nationalliga A 577 Partien, einige davon in Zug an der Seite seines jüngeren Bruders Duri. Das Total hätte höher sein können, wäre am Valentinstag 2011 bei ihm nicht Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert worden.
Fünf Jahre zuvor hatte er seinen Vater Werner, den Bob-Olympiasieger von 1972 in Sapporo, an den Krebs verloren.
Er selbst überstand die Krankheit, musste die Karriere aber bald darauf beenden. Das Erlebnis war so einschneidend, dass Camichel sich dafür entschied, sein Leben radikal umzukrempeln und eine positivere Vista einzunehmen.
Nach dem Rücktritt wirkte Camichel als Trainer, Winter 2022/23 kündigte er seine Stelle im Nachwuchsbereich des EVZ und machte sich als Mentaltrainer selbstständig.
Zu seinen Klienten gehören der HC Ambrì-Piotta und der EHC Olten; Camichel lebt mit seiner Familie in Weggis.
SLAPSHOT: Seit Ihrem Rücktritt von 2013 waren Sie als Coach aktiv, unter anderem in Zug und Seewen. Wie kommt es, dass Sie heute als Mentaltrainer arbeiten?
Corsin Camichel: Der mentale Aspekt hat mich immer interessiert. Als ich beim EV Zug die Elite-Junioren trainierte, habe ich absichtlich darauf verzichtet, Boxplay zu trainieren.
Unser Unterzahlspiel war miserabel. Aber ich wollte erreichen, dass wir disziplinierter spielen. Also weniger Strafen holen. Das hat funktioniert.
In der Corona-Saison 2020/21 habe ich beim EVZ dann zusammen mit Roger Hansson den «Taxi Squad» gecoacht. Alle haben damals von Zug den Titel erwartet.
Irgendwann habe ich zu Grégory Hofmann gesagt: Komm, wir gehen mal eine Runde laufen. Wir haben uns dann eine Stunde lang unterhalten.
Es ging darum, Druck von ihm wegzunehmen. Und dass er gewisse Dinge deponieren kann. Da wurde mir zum ersten Mal klar, wie wichtig das ist: Dass jemand da ist, dem man sich anvertrauen kann. Nicht der Coach, nicht der Sportchef, nicht der Agent. Sondern jemand, der von aussen kommt. Und eine unverstellte Perspektive hat.
Ein Mentaltrainer hat im Gegensatz zum Trainer, Agenten oder Sportchef keine Eigeninteressen. Sondern ich bin nur dafür da, das Wohlbefinden des Spielers zu verbessern.
Auch für Trainer ist ein solcher Sparringpartner sehr wertvoll. Ich glaube, das wird die nächste grosse Sache im Profisport: «Coach the coach».
«Ich komme aus St. Moritz, aus den Bergen, und habe mir immer eingeredet, dass ich alles selbst schaffen muss und kann. Dabei ist es viel gesünder, über seine Probleme zu reden.»
SLAPSHOT: Wie wird man Mentaltrainer?
Camichel: Ich bin Trainer geworden, weil ich Menschen helfen und sie weiterbringen will. Wenn du es als Coach ganz nach oben bringen willst, musst du einiges opfern.
Fachlich hätte ich mir das absolut zugetraut. Aber ich bin ein Familienmensch, und wenn du Trainer bist, gibst du viel von deinem Privatleben auf.
Als Mentalcoach kann ich Menschen noch persönlicher helfen. Und trotzdem genug Zeit mit meiner Familie verbringen.
Ich habe mich bei Roger Erni ausbilden lassen und konnte viel von ihm lernen. Es gibt viele Tricks. Meditation. Atemübungen. Und schon nur, den Horizont zu erweitern, in dem man Fragen stellt.
SLAPSHOT: Hätten Sie sich als Spieler auch einen Mentaltrainer gewünscht?
Camichel: Im Rückblick auf jeden Fall. Aber damals wäre ich dafür wahrscheinlich nicht bereit gewesen. Ich komme aus St. Moritz, aus den Bergen, und habe mir immer eingeredet, dass ich alles selbst schaffen muss und kann. Dabei ist es viel gesünder, über seine Probleme zu reden. Und zu versuchen, sie zu lösen.
Ich flüchtete mich als Spieler in Ablenkung: Ausgang, Alkohol, Glücksspiel. Auf Dauer ist das nicht erfüllend. Ich hätte mehr aus meiner Karriere herausholen können. Aber mir hat der Fokus gefehlt. Da hätte ein Mentaltrainer auf jeden Fall geholfen.
SLAPSHOT: Sie arbeiten seit dem Sommer unter anderem für Ambrì-Piotta. Der Trainer Luca Cereda hat zuletzt öffentlich über seine mentalen Probleme geredet und gesagt, dass das Eishockey immer noch ein «Machobusiness» sei.
Camichel: Das stimmt. Das «Tough Guy»-Image ist tief verankert. Ich hatte auch jetzt Reaktionen von älteren Trainern die fanden: Mentaltrainer? Das ist doch lächerlich. Aber die Zeiten ändern sich. Und wenn Leute wie Cereda so offen reden, hilft das, Stigmen abzubauen.
Die Spieler sind heute empfänglicher für Mentaltrainer. Wobei man auch sagen muss: Eigentlich erst, wenn es nicht läuft. Dann suchen sie einen Miraculix (lacht). Aber es gibt kein Wundermittel, die Prozesse brauchen Zeit.
SLAPSHOT: Wie viel Prozent machen mentale Komponenten im Leistungsvolumen eines Athleten aus?
Camichel: Ich würde sagen: Die Störfaktoren können bis zu 40 Prozent ausmachen. Und meine Aufgabe ist es, möglichst viele davon zu eliminieren. Manchmal hilft es schon nur, die Relationen aufzuzeigen.
Wissen Sie: Ich habe meine ganze Karriere über in der Hockey-Blase gelebt. Das war alles, was zählte. Und klar, Hockey ist wichtig, der Job ist wichtig. Aber am Ende des Tages geht es um Unterhaltung und nicht um Leben und Tod. Je schneller man das versteht, desto besser.
SLAPSHOT: Sie sagten in einem Interview mal: «Für mich waren wir eine Art Clowns, die jeden Samstagabend in der Manege standen und für Unterhaltung sorgten». Sehen Sie das immer noch so?
Camichel: In gewisser Weise schon. Ich finde, es hilft, wenn man sich selbst nicht zu ernst nimmt. Ich habe als Knirps mit dem Hockey begonnen, weil es mir Spass machte. Man sollte nicht vergessen, dass es ein Spiel ist.
Heute ist es teilweise schon für die Junioren ein Business. Die Eltern sagen, du wirst der nächste Superstar, die Agenten sowieso. Da wird früh einiges an Druck aufgebaut, damit können nicht alle umgehen.
SLAPSHOT: Sie hatten viele Trainer mit klingenden Namen: Arno Del Curto, Doug Shedden, Pekka Rautakallio, John van Boxmeer. Nicht alle aus dieser Liste dürften eine so entspannte Sicht auf das Hockeybusiness gehabt haben.
Camichel: Das stimmt. Ich versuchte, jener Trainer zu sein, den ich mir selbst gewünscht hätte: Die Leidenschaft von Del Curto und an der Bande die Besonnenheit von Rautakallio. Aufbrausende Trainer mochte ich nie. Das ist, wie wenn man neben einer Kirche wohnt: Irgendwann hört man die Glocken nicht mehr.
SLAPSHOT: Sie erkrankten mit 30 an Lymphdrüsenkrebs. Hat das ihre Sicht auf das Leben verändert?
Camichel: Auf jeden Fall. Das war der Schlag ins Gesicht, nach welchem ich mein ganzes Leben geändert habe. Ich musste damals an einen Tag aus meiner Zeit in Ambrì denken.
Wir hatten eine Fahrgemeinschaft von Bellinzona nach Ambrì. Und haben im Auto 40 Minuten lang über den Trainer geflucht. Das ganze Mittagessen über ebenfalls. Und die 40 Minuten zurück nach Bellinzona noch einmal. So viel negative Energie, unglaublich.
So wollte ich nicht mehr sein. Ich habe vor der Erkrankung immer bei allen anderen die Schuld dafür gesucht, wenn etwas nicht lief. Die Mitspieler. Der Coach. Warum trifft es immer mich? Dabei liegt es ja an mir, etwas zu ändern. Seitdem ich den Krebs überstanden habe, halte ich mich nicht mehr mit Kleinigkeiten auf.
Ich habe ein tiefes Vertrauen in das grosse Ganze. Das hatte ich schon immer, aber es ist noch deutlich ausgeprägter geworden.
SLAPSHOT: Nach Ihrer Genesung gaben Sie ihr Comeback und spielten neben dem EVZ unter anderem noch für Sierre und den HCD, ehe Sie 2013 mit 32 zurücktraten. Hätten Sie nicht noch länger spielen können?
Camichel: Ich kehrte viel zu früh zurück. Den körperlichen Anstrengungen war ich nicht mehr gewachsen, nach Doppelrunden war ich physisch am Ende. Mein Körper benötigte viel mehr Regenerationszeit.
Wahrscheinlich hätte ich zwei, drei, vier Jahre länger spielen können, wenn ich mich in Ruhe auf das Comeback vorbereitet hätte. Aber diese Geduld hatte ich nicht.
SLAPSHOT: Der Krebs war nicht der einzige Schicksalsschlag in ihrem Leben. Sie verloren Ihren Vater an den Krebs. Und Ihren Bruder Duri 2015 bei einem Autounfall in Costa Rica.
Sie hatten 2003 zudem bei einem Unfall mit einem Geisterfahrer in der Leventina viel Glück, dass Sie unversehrt blieben. Haben diese Ereignisse Sie abgehärtet?
Camichel: Ich denke schon. Letztlich hat mich all das zu dem gemacht, was ich heute bin.
«Wahrscheinlich hätte ich zwei, drei, vier Jahre länger spielen können, wenn ich mich in Ruhe auf das Comeback vorbereitet hätte. Aber diese Geduld hatte ich nicht.»
SLAPSHOT: Ihr Bruder Duri hat sich zu vielen Themen Gedanken gemacht. Hatte er je einen Mentaltrainer?
Camichel: Nein. Das hätte ihm bestimmt gutgetan. Aber auch Duri fiel es schwer, sich zu öffnen, er war von der Maxime «play hard, be hard» überzeugt.
Er war Captain in Zug, es gab Erwartungen und Druck. Damit fand er sich nach seiner Verletzung nicht mehr zurecht.
Er litt an Depressionen, aber das habe ich erst viel später erfahren. Er hat nie über seine Dämonen gesprochen. Ich habe ihn ein Jahr vor dem Tod in Mittelamerika besucht und ihn gebeten, nach Hause zu kommen.
Das wollte er nicht, ich musste das akzeptieren. Sein Tod war vor allem für die Mutter verdammt hart.
Ich habe mich oft gefragt, wie ich ihm besser hätte helfen können. Er hat seine Karriere relativ früh beendet, weil er aus dem Profi-Alltag ausbrechen wollte, der ihn offenbar so belastet hat.
Er stellte sich die grossen Fragen, um was es im Leben eigentlich geht, beispielsweise. Ich hätte ihm sehr gewünscht, dass er sein Glück findet. Und ich glaube, dass er bis zum Unfall auf einem guten Weg dazu war.
Über Corsin Camichel
Geboren: 26. Februar 1981.
Klubs als Trainer: Ambrì-Piotta und EHC Olten (Mentalcoach), EV Zug U20, EVZ Academy (Assistenztrainer), U20-Nationalmannschaft (Assistenztrainer), EHC Seewen.
Grösste Erfolge als Trainer: Meister U20 2021/22.
Klubs als Spieler: HC Davos, HC Sierre, EV Zug, HC Ambrì-Piotta, SC Bern, Neuchâtel Young Sprinters, SC Bern, SC Herisau, EHC Chur, EHC St. Moritz, EHC Arosa, Engiadina.