Lieber Eishockey als Skispringen

Slapshot
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Am 28.11.2024 - 15:43

Der Meister ZSC Lions verpflichtete im Sommer den finnischen Verteidiger Santtu Kinnunen. Wer ist er und wieso glaubt Coach Crawford, ihn in die NHL zu bringen?

Santtu Kinnunen Slapshot
Santtu Kinnunen spielt für die ZSC Lions. - Andreas Haas/Die Bildmanufaktur

Santtu Kinnunen zockt gerade an der Play-Station NHL 18, als Jesse Ylönen ihn anruft. Es ist Ende Juni 2018, Kinnunen geniesst in Lahti die hockeyfreie Zeit mit Freunden. Ylönen, ein alter Bekannter, weilt am NHL-Draft in Dallas, wo er am gleichen Wochenende selbst in der zweiten Runde von Montréal ausgewählt wurde. Seine Stimme klingt aufgeregt; er sagt, er rufe an, um Kinnunen zu gratulieren. Er sei gerade gedraftet worden.

Der junge Verteidiger glaubt an einen Jux. Gedraftet? Er? Der zu diesem Zeitpunkt bis auf ein paar Einsätze in der Mestis, der zweithöchsten finnischen Liga, keine Erfahrung im Profihockey aufweisen konnte und kaum je für die Nachwuchsnationalmannschaften berücksichtigt worden war?

Er legt den Controller weg und macht das, was man eben tut, wenn man etwas wissen muss im Eishockey-Geschäft: Er ruft eliteprospects.com auf. Und da steht tatsächlich: Santtu Kinnunen, siebte Runde, Nr. 207, Florida Panthers.

Santti Kinnunen
Santti Kinnunen im Jersey der ZSC Lions. - zVg

Er sagt: «Ich konnte es wirklich kaum glauben, das kam aus heiterem Himmel. Ab und zu hat ein Scout mit mir geredet. Aber ich hatte keinen Kontakt zu Teams. Danach ging alles sehr schnell. Am nächsten Morgen nahm ich den Flieger nach Florida, die Panthers wollten mich in einem Camp sehen.»

Es war das erste Mal, dass Kinnunen die USA besuchte. «Alles war neu und faszinierend. Ich hatte das Glück, dass es noch andere finnische Spieler gab, die schon länger dabei waren und mir dabei helfen konnten, mich zurechtzufinden», sagt er.

Es gibt Siebtrundendrafts, die Geschichte geschrieben und sich als All-Stars verewigt haben: Henrik Zetterberg, Henrik Lundqvist, Doug Gilmour, Joe Pavelski, Ondrej Palat. Aber die Chancen, es tatsächlich in die NHL zu schaffen, sind sehr klein. Auch Kinnunen hat es noch nicht so weit gebracht.

Santtu Kinnunen
Der Meister ZSC Lions verpflichtete im Sommer mit Santtu Kinnunen einen einzigen Spieler, der noch nicht Teil der Organisation war. Wer ist der finnische Verteidiger? - zVg

Nachdem er 2022 unter Jussi Tapola mit Tappara Tampere finnischer Meister geworden war, wechselte er nach Übersee. Die Panthers platzierten ihn in ihrem AHL-Farmteam, bei den Charlotte Checkers. Zwei Jahre spielt er dort ansprechendes Hockey (137 Spiele/56 Punkte), aber eine Beförderung in die NHL bleibt in weiter Ferne.

Es hilft ihm nicht, dass die Panthers aktuell zu den Top-Teams der Liga gehören und 2024 erstmals den Stanley Cup gewannen: In der NHL hat die Organisation derzeit keine Zeit für Experimente.

Die Freundschaft zur Klotener Nummer 1

Kinnunen sagt, die zwei Jahre hätten ihm trotzdem gefallen. Trotz der weiten, teilweise unkomfortablen Reisen in der AHL und dem eigenartigen Spielplan der Liga, die manchmal drei Spiele innert drei Tagen ansetzt. Im zweiten Jahr in Charlotte wurde sein Leben zudem durch eine neue Freundschaft bereichert: Bei den Checkers traf er auf Ludovic Waeber, den lange beim ZSC beschäftigten heutigen Nummer-1-Goalie des EHC Kloten. Die beiden verstanden sich auf Anhieb prächtig, auch ihre Partnerinnen verbrachten viel Zeit zusammen.

Sie verabredeten sich zu gemeinsamen Abendessen und auch einmal zu einem Matchbesuch beim NBA-Team Charlotte Hornets. Heute wohnt der 25-jährige Kinnunen in Winkel und Waeber in Dietlikon; der Torhüter firmiert immer mal wieder als Hundesitter, wenn Kinnunen abwesend ist.

Waeber sagt: «Er ist so ein guter Typ. In Charlotte hat er mir die ganze Stadt gezeigt und mir das Leben stark erleichtert. Jetzt kann ich mich revanchieren und ihn in Zürich herumführen.»

Kinnunen hat beim ZSC für eine Saison unterschrieben, sein Ziel bleibt die NHL. Der ZSC-Trainer Marc Crawford, der jahrzehntelang in der besten Liga der Welt gecoacht hat und 1996 mit Colorado den Stanley Cup gewann, sagt: «Kinnunen hat alle Anlagen, um es in die NHL zu schaffen. Er ist beweglich, kreativ und kann das Spiel sehr gut lesen. Wir wollen ihn weiterbringen, damit er morgen in der NHL Fuss fassen kann.»

Santtu Kinnunen Slapshot
Santtu Kinnunen wurde 2022 finnischer Meister. - zVg

Die Frage ist, ob Kinnunen dafür genügend Auslauf erhalten wird. Beim ZSC stehen sieben Ausländer unter Vertrag, in der Hackordnung befinden sich der Torhüter Simon Hrubec, der Verteidiger Mikko Lehtonen und die Stürmer Rudolfs Balcers, Jesper Frödén, Derek Grant und Juho Lammikko tendenziell vor ihm.

Hat ihn das nicht besorgt, bevor er sich dem Meister verschrieb? «Nein», sagt Kinnunen, und ergänzt: «Es gibt diesen Konkurrenzkampf bei fast jedem Top-Team in der Schweiz. Ich wollte in diese Liga, weil ich denke, dass sie am besten zu meinem Spielstil passt.

Mit der Champions Hockey League bestreiten wir in dieser Saison sehr viele Spiele. Ich bin überzeugt, dass es der richtige Schritt für meine Entwicklung ist.»

Und sowieso: Der ZSC sei die einzige Schweizer Mannschaft gewesen, die sich bei seinem Agenten gemeldet habe. Das Interesse habe ihn geehrt, er habe es nicht erwartet. Bescheidenheit scheint bei Kinnunen eine ausgeprägt vorhandene Tugend zu sein.

Er erzählt, dass er bis zu seinem Draft-Jahr nicht sicher gewesen sei, ob er eine Zukunft im Eishockey habe; ob sein Talent dafür ausreiche.

Kurri und Selänne als grosse Idole

Er hatte den Sport unter anderem deshalb gewählt, weil er als Bub zu viel Respekt vor der mächtigen Skisprung-Schanze hatte. Lahti ist das finnische Epizentrum der nordischen Sportarten, Skispringen ist ein Kulturgut – die Weltklasseathleten Janne Ahonen und Toni Nieminen sind Söhne der Stadt.

Kinnunens Schulkollegen versuchten sich ebenfalls, aber er zog es vor, zum Hockey zu gehen. Er eiferte den finnischen Nationalheiligen Teemu Selänne und Jari Kurri nach, ihre Trikots streifte er sich immer wieder über. Bis 14 war er selbst Stürmer, ehe er umfunktioniert wurde.

Santtu Kinnunen Slapshot
Die ZSC Lions-Spieler Simon Hrubec, Vinzenz Rohrer, Santtu Kinnunen, Derek Grant (ZSC) und Patrick Geering (ZSC) (v.l.n.r.) jubeln nach einem Spiel der Schweizer National League. - KEYSTONE/Til Buergy

Der Juniorentrainer beschied ihm, er sei zu langsam, um im Angriff zu wirbeln. Die Vorhaltung ist nicht frei von Ironie, so geschmeidig wie Kinnunen heute übers Eis gleitet.

Er sagt, die Versetzung habe ihn nicht geärgert. Warum auch? Er begriff den Sport als Hobby und sinnierte darüber, vielleicht irgendwann Architektur zu studieren – er war ein guter, folgsamer Schüler. Es kam anders, weil er im Eishockey konstant alle Erwartungen übertraf.

2019/20 kam er bei seinem Stammklub Pelicans Lahti wenig zum Einsatz und wurde immer wieder in die zweite Division ausgeliehen. Trotzdem bemühte sich der Rekordmeister Tappara um ihn. «Das hätte ich nicht erwartet, dass sich ein so starkes Team für mich interessiert», sagt Kinnunen. Doch er rechtfertigt das Vertrauen sofort und wird unumstrittener Stammspieler.

Der ZSC verpflichtete ihn nicht zuletzt, um den Marathonmann Mikko Lehtonen zu entlasten. Kinnunen ist offensiv ähnlich begabt wie sein Landsmann, er hat alle Anlagen, um das Zürcher Powerplay zu beleben. Er ist der einzige neue Spieler im ZSC-Kader neben den von den GCK Lions beförderten Youngstern.

Kinnunen hat das Potenzial, zur positiven Überraschung der Saison zu werden. Es wäre nicht das erste Mal in seiner noch jungen Karriere.

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Santtu Kinnunen

Geboren: 25. März 1999. Grösse: 189 cm. Gewicht: 85 kg. Vertrag: bis 2025.

Stationen: Bis 2020: Pelicans, Peliitat (Nachwuchs, Mestis, Liiga). 2020 bis 2022: Tappara (Liiga). 2022 bis 2024: Charlotte Checkers (AHL). Seit 2024: ZSC Lions. Grösster Erfolge: Finnischer Meister 2022.

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