Tino Kessler: Zuhause spielen,so wie erträumt
Nach vier Jahren in Biel ist Tino Kessler wieder beim HC Davos. Der 28-jährige Stürmer kehrt als neuer Spieler, aber auch als neuer Mensch zum HCD zurück.

Dass Tino Kessler nach seiner Rückkehr nach Davos nicht mitten in der Kleinstadt, sondern ausserhalb im Dörfchen Clavadel Richtung Sertig wohnt, überrascht nicht. Ruhig möge er es, sagte Kessler bereits vor Jahren, als er erst gerade dran war, sich als junger Stammspie ler seines HCD zu etablieren.
Der Zusammenhang zu seiner Herkunft ist schnell ersichtlich: Kessler wuchs in Maria und Pusserein auf, kleine Örtchen hoch oberhalb von Schiers im Prättigau, jenem Tal, das Reisende aus dem Unterland passieren, bevor sie das Landwassertal und Davos erreichen.
Unbekannt ist die Gegend dennoch nicht, im Gegenteil: In der Nähe von Pusserein ist die Salginatobelbrücke und damit das einzige Welt monument in der Schweiz.
Das Prättigau ist HCD-Land, der Rekordmeister wurde darum auch zu Kesslers Klub. Bis zu seinem 24. Lebensjahr spielte er für Davos, nach vier Saisons beim EHC Biel ist er nun zurück. Er wird Ende Jahr zum fünften Mal am Spengler Cup teilnehmen.
Seine erste Erinnerung an das Traditionsturnier? Wie er als Neunjähriger am Kids-Training teilnahm und mit Sven Felski, dem deutschen Star der Eisbären Berlin, minutenlang den Puck hin und her spielen durfte. Wurde da der Traum geboren, einst selber am Spengler Cup teilzunehmen? «Nein», sagt Kessler und lacht.
Solche Gedanken seien erst später gekommen, als er bei den HCD-Junioren spielte. Damals, 2005, sei vor allem die Freude am Eishockeyspiel im Vordergrund gestanden, keine Pläne für ein späteres Profileben.

Spielen und dabei kreativ sein. An seiner Idealvorstellung vom Eishockey hat sich bei Kessler aber nichts verändert. Doch nicht immer sah sein Umfeld in ihm diesen Typ Stürmer. Als Junior war er ein Skorer. In seiner letzten U20-Saison schoss Kessler in 22 Spielen 19 Tore, er hatte zudem den besten Punkteschnitt der Liga.
Auf Platz 2? Ein gewisser Nico Hischier! Der Walliser, der eine Saison später in der NHL zum ersten Schweizer Nummer-1-Draft wurde, ist knapp drei Jahre jünger als Kessler, der Vergleich darum unsinnig. Dennoch zaubert dieser Fakt ein Lächeln auf die Lippen des Bündners.
Er erinnert sich gerne an diese spezielle letzte Juniorensaison, weil vieles ungewöhnlich war. Rund ein Dutzend der Spieler wurde Stammkraft in den beiden höchsten Ligen. Und mit Trainer Anders Olsson entwickelte sich eine für Kessler spezielle Beziehung, die auch später seine Karriere noch prägen sollte.
«Anders wollte uns spielerisch weiterentwickeln», sagt Kessler. Dies geschah auch auf Kosten der Resultate der Mannschaft. «Doch wenn man schaut, wie viele es von uns danach schafften, dann zeigt dies, dass etwas richtig gemacht wurde.»
Doch als Kessler danach in die 1. Mannschaft wechselte, fand er sich in der für junge Debütanten typischen Rolle wieder: Er sollte ein Energiespieler sein. Nicht, dass ihn dies per se stören würde: «Natürlich kann ich auch diese Rolle spielen.»
Immerhin waren nebst Andres Ambühl vor allem die Wieser-Brüder Dino und Marc seine grossen Vorbilder gewesen. Und die beiden Prättigauer brachen bei ihrem NLA-Debüt als Forechecking-Monster in die Liga ein. In dieser Rolle fand sich Kessler aber nicht als jener Spieler wieder, der er sein wollte.
Die Vergleiche, die folgten, hätten ihm nicht gutgetan, sagt Kessler: «Der nächste Wieser, der nächste Büeli, der nächste dies oder das. All das war nie mein Ziel. Und ich brauchte Zeit, bis ich meinen eigenen Stil finden und dabei auch wirklich meinen eigenen Fähigkei ten vertrauen und nicht nur andere kopieren konnte.»
Es brauchte vor allem einen Wechsel zu einem anderen Klub. Und hier kam wieder sein früherer Juniorentrainer ins Spiel.
«Als Anders den HCD verliess und zu Biel wechselte, versprach er, dass er mich irgendwann zum EHC holen würde», erzählt Kessler. «Und dies löste er auch ein.» Kessler war in Davos mittlerweile in eine sportliche Sackgasse geraten, diverse Verletzungen halfen auch nicht.
Zwei Saisons hintereinander wurde er kurz in die Swiss League nach Biasca und damit einem der eishockeytechnisch gesehen tristesten Orte ausgeliehen. Olsson, in Biel als Assistenztrainer tätig, empfahl den Bündner Antti Törmänen, und so wurde Kessler in seinem letzten Vertragsjahr beim HCD ins Berner Seeland ausgeliehen. «Unter Antti gefiel es mir sofort», erzählt Kessler, «und ich unterschrieb für die nächste Saison fix in Biel.»

Das Happy End dieser Geschichte in Biel schrieb Kessler danach aber nicht sofort. Törmänen fiel für die erste Saison wegen einer Krebserkrankung komplett aus, Lars Leuenberger sprang ein. Und dieser sah in Kessler den Energiespieler für die hinteren Linien.
Dass Törmänen dennoch hin und wie der in der Eishalle kam, half Kessler: «Er sagte mir, dass ich wissen muss, welcher Spieler ich bin und welche Qualitäten ich habe. Das tat mir sehr gut.» Als der Finne, wieder geheilt, in der Folgesaison an die Bande zurückkehrte, erhielt Kessler eine neue Rolle.
Es war wie damals bei den Junioren: Er spielte im Power play, er durfte jene kreative Offensivkraft sein, als die er sich selber sah. «Unter Antti ent wickelte ich mich extrem weiter», sagt Kessler. Nach Olssons Abgang aus Biel wurde der Kalifornier Oliver David Törmänens neuer Assis tent. Der Amerikaner erinnert sich an Kessler als Spieler, «der stets ein Lächeln im Gesicht hatte und sehr interessiert war, sowohl am Eishockey, als auch an mir als Person.» Ja, er suche stets nach Wegen, ein besserer Spieler zu sein, bestätigt Kessler.
«Und Oliver ist ein interessanter Mensch, sehr offen, fröhlich und begeisterungsfähig. Ich hörte gerne zu, was er über seine Lebenserfahrung zu erzählen hatte. Auch, weil Kalifornien und die Kultur dieses US-Staats mich generell interessiert.»
Kessler betont mehrfach die Dankbarkeit gegenüber Biel und dem EHC. Auch als Mensch habe es gutgetan, seine Heimat für ein paar Jahre verlassen zu können, sagt Kessler: «Zuhause wird man immer auch in ein Muster gepresst. In Biel kannte das Prättigau nie mand, ich konnte dort ich selbst sein. Ich brauchte das, um mich entwickeln zu können.»

Biel habe ihm diese Möglichkeit gegeben, es sei der ideale Ort gewesen für einen jungen Spieler wie ihn: «Die ganze Region, all die lieben Menschen, sie liegen mir immer noch am Herzen.»
In Biel wurde Kessler zum ersten Mal Vater, im August 2023 kam sein Sohn auf die Welt. Vater zu werden, habe seine ganze Entwicklung, die er auch als Spieler durchmachte, unterstützt, sagt er: «Ich wurde selbstbewusster, ich kann noch mehr ich selbst sein.»
Es sei dieser Wert, dem er seinen Sohn vorleben will: «Auch er soll einst er selbst sein können.» Wie er als Vater sei? «Liebevoll», sagt Kessler und fügt lachend an: «Aber das müsste man vielleicht eher meine Ehefrau fragen.»
Doch bei aller Liebe zu Biel: Ein Gedanke blieb Kessler im Seeland von Anfang an präsent: «Ich wusste, dass ich irgendwann zum HCD zurückwechseln werde. Dass es nun 2024 klappte, mag auch Zufall sein. Aber eine Rückkehr war für mich klar.»
Zurück in Davos, verpasste er den Saisonstart wegen einer Fussverletzung. Als er Mitte Oktober im erst zweiten Spiel nach Biel zurückkehrte und dort im ersten Shift sein erstes Saisontor erzielte, schrieb er auch für sich eine spezielle Geschichte.
Mit Biel kam er dem Traum vom Meistertitel nahe: Am 27. April 2023 verlor er mit dem EHC Spiel 7 des Finals in Genf. Die Antwort auf seine Ziele in Davos folgt darum ohne Zögern: «Meister werden! Wir haben das Potenzial, wir müssen es nur noch umsetzen.» Es ist keine Phrase, zum Zeitpunkt dieses Interviews belegt der HCD Platz 1.
In seinem Stammklub darf Kessler nun auch die gewünschte Rolle spielen, Filip Zadina ist sein Linienpartner. Ein paar Tage vor diesem Gespräch hat der spektakuläre Tscheche einen Hattrick erzielt gegen … Biel. Josh Holden, sein Trainer, habe ihm vor der Saison folgende Erwartungen mitgeteilt: «Josh will, dass ich mein Spiel spiele, dass ich in der Offensive zur Qualität beitrage, dass wir viel mit dem Puck spielen, dass ich den Puck halten und Raum für andere schaffen kann.»

Seine Rolle ist neu, doch vieles ist für Kessler auch vertraut geblieben. Zum Beispiel sein mittlerweile fast 80-jähriger Grossvater, der die Spiele regelmässig auf den Stehplätzen verfolgt: «Ihm gefällt es, wenn gesungen wird und etwas läuft», erzählt Kessler, der ihn jeweils beim Verabschieden mit dem Team im Publikum inmitten der Kurve sieht.
Die HCD-Fans sind ihm generell wichtig, vor allem die einheimischen, darum will Kessler auch diese Botschaft loswerden: «Wir müssen Sorge tragen zu ihnen. Sie müssen ein gutes Bild von uns haben, weil nur dann kommen sie auch ins Stadion.» Auch Kessler weiss, dass mitten in der Saison an Dienstagen die Eishalle nicht immer so gut gefüllt ist wie anderswo.
Und auch wenn die geografische Situation eine andere ist als für andere Teams, müsse dies das Ziel sein. Was die Spieler tun können? «Unsere Körpersprache ist ebenfalls wichtig. Wir können damit Freude vermitteln, und Freude ist ansteckend.»
Über Tino Kessler
Geboren: 1. Mai 1995. Grösse: 180 cm. Gewicht: 78 kg. Vertrag: bis 2028.
Stationen: Bis 2020: Prättigau-Herrschaft, Davos, Ticino Rockets, EHC Biel-Bienne (Nachwuchs, National League, Swiss League). 2020 bis 2024: EHC Biel-Bienne (NL). HC La Chaux-de-Fonds (Swiss League). Seit 2024: HC Davos.