«Man muss viel falsch machen, um in Bern keinen Erfolg zu haben»
Das grosse SLAPSHOT-Interview mit Bill Gilligan. Er führte den SC Bern zwischen 1989 und 1997 zu vier Meistertiteln und beendete 2018 seine Karriere.
SLAPSHOT: Auf unsere Terminanfrage antworteten Sie, dass es auf das Wetter ankomme, wann Sie Zeit für das Gespräch haben. Wie war die Golf-Runde?
Bill Gilligan: Kein Golf, sondern Tennis. Man muss ja fit bleiben.
SLAPSHOT: Bis 2017/18 waren Sie Assistenztrainer am Merrimack College in Massachusetts, es war Ihr letzter Job im Eishockey. Was machen Sie heute?
Gilligan: Eigentlich wäre ich mit 70 ja im Ruhestand, aber ich arbeite als Lehrer für schwer erziehbare Jugendliche. Es ist etwas ganz anderes, als es das Eishockey war.
Wissen Sie: Athleten wird viel gegeben, von klein auf, gerade im Eishockey. Ich arbeite mit zwölf- bis 14-Jährigen, die teilweise aus ärmlichen Verhältnissen stammen oder ohne Eltern aufwuchsen. Das ist sehr erfüllend. Und hat einen weiteren grossen Vorteil.
SLAPSHOT: Welchen?
Gilligan: Dass ich junge Leute um mich herumhabe. Ich verbringe nicht gerne zu viel Zeit mit Menschen meiner Altersklasse. Und Didaktik hat mich immer interessiert. Wäre ich nicht im Eishockey gelandet, wäre ich vermutlich Lehrer geworden. Gewissermassen hole ich das jetzt nach.
SLAPSHOT: Wissen die Kinder, wer Sie sind?
Gilligan: Wir leben im Zeitalter des Internets, also ja. Sie googeln meinen Namen, stossen auf einen Wikipedia-Eintrag und fragen: Sind Sie das? Aber es beschäftigen sie andere Dinge als die Vergangenheit eines alten Lehrers.
SLAPSHOT: Als junger Mann wechselten Sie nach dem College ins Profi-Eishockey. Erst in die WHA, eine Konkurrenzliga zur NHL. Und dann 1979 mit 25 nach Österreich zum Wiener EV, für den Sie im ersten Jahr in 40 Spielen 131 Skorerpunkte produzierten. Wie kam das?
Gilligan: Rückblickend hätte ich wahrscheinlich versuchen sollen, die NHL zu erreichen. Aber das war weit weg. In der NHL haben die Spieler damals um die 100'000 Dollar verdient. In Österreich konnte man zwischen 40'000 und 60'000 verdienen.
Ich sah es als ein Abenteuer. Hockey spielen, eine andere Kultur entdecken und dabei Geld verdienen – was will man denn mehr? Wien war keine Hockeystadt, aber ich habe die Zeit genossen.
SLAPSHOT: Haben Sie Falco live gesehen?
Gilligan: Leider nicht. Mein einziges musikalisches Erlebnis war, dass ich mal in die Oper gegangen bin. Und dort einschlief.
SLAPSHOT: 1983 wechselten Sie als WM-Teilnehmer der USA in die Nationalliga B zu Chur. Wie kam das?
Gilligan: Churs Trainer Miroslav Berek kannte mich aus Österreich und hat mich zum Wechsel bewegt. Ich erhielt einen Vertrag, mit dem ich sehr zufrieden war. Jedenfalls so lange, bis ich mit Ron Wilson redete, der in Davos spielte.
Als ich ihm mein Salär nannte, lachte er mich aus und sagte: «Bill, du bist hier nicht mehr in Österreich.» Ich verpasste es auch, eine Aufstiegsprämie auszuhandeln. Das war mir eine Lehre.
SLAPSHOT: Churs damaliger Präsident Thomas Domenig war berühmt-berüchtigt. Wie haben Sie ihn erlebt?
Gilligan: Ich kam glimpflich davon. Mein Sturmpartner Fernand Leblanc war ein überragender Spieler. Aber er feierte gerne, und es kam schon vor, dass er etwas Übergewicht mit sich herumtrug. Wenn es nicht lief, richteten sich die Tiraden an ihn. Aber auch das geschah selten. Wir hatten ein starkes Team. Und stiegen auf.
SLAPSHOT: Zu Ihren Teamkollegen in Chur gehörten unter anderem Renato Tosio und Thomas Vrabec, die Sie später in Bern coachten.
Gilligan: Ich hatte in meiner Trainerkarriere das Glück, oft zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. In Bern war das ganz sicher so. Ohne TopGoalie und viel Talent kannst du nicht gewinnen. Wir hatten beides. Tosio war überragend. Eigentlich hätte er in die NHL gehört.
SLAPSHOT: Wirklich?
Gilligan: Oh ja. Ich erlaube mir, hier zu wiederholen, was ich seinem Vater schon 1983 gesagt habe, worauf der ziemlich wütend wurde: Tosio ist gut genug, um es in der NHL zu schaffen. Aber er hätte seinen Stil ändern und sich coachen lassen müssen.
Für mich war es ja gut, dass es nicht so gekommen ist. Er hatte auch so eine einzigartige Karriere. Übrigens hätte auch Gil Montandon das Zeug für den Sprung in die NHL gehabt.
SLAPSHOT: 1988 kamen Sie als vierfacher Meister aus Österreich nach Bern. Wie kam der Wechsel zu Stande?
Gilligan: Roland von Mentlen kontaktierte mich, danach fuhr ich nach Bern an ein Vorstellungsgespräch. Ich glaube, der SCB hatte prominentere Kandidaten als mich. Aber ich habe mich auf Anhieb gut mit dem Präsidenten Fred Bommes verstanden. Ich sagte ihm: Ich bin der beste Mann für das, was du suchst.
SLAPSHOT: Das klingt nach dem berühmten Zitat von Tom Brady, der dem Besitzer der New England Patriots sagte: «Ich bin die beste Entscheidung, welche diese Organisation je gefällt hat.»
Gilligan: Ja, wobei ich nicht glaube, dass Tom den Spruch von mir geklaut hat (lacht). Ich meinte es auch nicht so arrogant, wie das vielleicht für manche klingt. Aber mein Selbstvertrauen hat mir bestimmt geholfen, diesen Job zu erhalten.
SLAPSHOT: Sie hatten in Bern auf Anhieb Erfolg: Im ersten Jahr wurde der SCB überraschend Meister.
Gilligan: Das war wahrscheinlich der emotionalste Titel für mich. Es hatten uns nicht viele Leute auf der Rechnung.
SLAPSHOT: Sie sagen: Der emotionalste Titel. Aber Sie wirkten meist reserviert, die «NZZ» schrieb einmal, es existiere kein einziges Siegerbild von Ihnen, wo sich viele Ihrer Antipoden nur zu gerne mit einer Meister zigarre ablichten liessen. Im Artikel steht, Sie seien lieber allein im Mannschaftscar gesessen und hätten auf die Abfahrt gewartet.
Gilligan: Nicht jeder zeigt seine Freude gleich. Natürlich habe ich gejubelt, selbstverständlich haben mir Erfolge viel bedeutet. Aber ein Champagnerbad gibt mir nicht viel, dafür bin nicht der Typ. Mein Vater hatte eine Lederfirma, er war ein Mann, der hart gearbeitet und selten Emotionen gezeigt hat.
Das hat bestimmt auf mich abgefärbt. Und wenn wir auswärts Meister wurden: Wo hätte ich denn hinsollen, wenn nicht in den Car?
SLAPSHOT: In der Nationalliga A gab es damals noch diverse Spieler, die nebenbei arbeiteten. War es ein Kampf, die Professionalisierung voranzutreiben?
Gilligan: Eigentlich nicht, die meisten Spieler waren sehr ehrgeizig. Wir schauten, was die Konkurrenz macht. Lugano und Kloten trainieren im Sommer zwei Mal pro Tag? Dann machen wir das auch. Es gab kaum negative Reaktionen.
SLAPSHOT: Sie galten als eine Art Psychologe, als erster Trainer, der beispielsweise mit Fragebogen gearbeitet hat, um zu erfahren, welche Bedürfnisse die Spieler haben.
Gilligan: Ich weiss nicht, ob ich der erste war. Mir war es immer wichtig, die Spieler anständig zu behandeln und auf sie einzugehen. Es sind Menschen, nicht Maschinen.
SLAPSHOT: Als Sportchef holten Sie Martin Steinegger nach Bern. Er sagt, er habe Sie sehr geschätzt. Seine prägendste Erinnerung sei aber, wie Sie nach einem verlorenen Spiel in der Kabine jeden Spieler verbal zusammenfalteten. Einen nach dem anderen.
Gilligan: Das wird schon so gewesen sein, wenn er das sagt (lacht). Steinegger war ein guter Transfer, aber es hat ja schon in Biel jeder gesehen, wie stark er ist. Wir mussten ihn einfach davon überzeugen, zu uns zu kommen, statt nach Lugano zu gehen.
SLAPSHOT: Was haben Sie an Bern und dem SCB geschätzt?
Gilligan: Je älter ich werde, desto stärker habe ich das Gefühl, dass ich länger hätte bleiben sollen. Amerika ist grossartig, aber die Schweiz ist unschlagbar. Die Fans in der Schweiz sind überragend, in Bern ganz besonders.
Und daneben sind die Leute anständig und lassen dich in Ruhe. Ich bin kein sentimentaler Mensch. Aber das waren wunderbare Jahre, vielleicht die besten meines Lebens.
SLAPSHOT: Sie pflegten fast exklusiv nur Einjahresverträge zu unterschreiben. Wieso?
Gilligan: Bei Cincinnati in der WHA hatte ich einen Zweijahresvertrag unterschrieben und war in der zweiten Saison massiv unterbezahlt. Das hat mich geprägt. Und ich bin mit diesem Vorgehen gut gefahren.
Wenn du den Titel holst, wird dir selten der Lohn gekürzt. Dazu kommt: Es hat mich immer gestört, dass die Spieler in der Schweiz bei anderen Klubs unterschrieben, bevor die Saison zu Ende war. Eine absolute Unart, für mich wäre das nie in Frage gekommen.
SLAPSHOT: 1992 übernahmen Sie zusammen mit John Slettvoll die Schweizer Nationalmannschaft. Wieso? Ihnen wurde medial eine innige Feindschaft nachgesagt.
Gilligan: Es gab diesen einen Abend in der Resega, an dem wir uns gegenseitig anbrüllten und fast in die Haare geraten werden. Aber ich habe in meinem Leben schon viele Leute angeschrien.
Und John auch. Das wurde medial überzeichnet. Wir wurden angefragt und sagten zu, weil wir das Potenzial dieser Lösung sahen.
SLAPSHOT: Es gibt bis heute Menschen, die felsenfest davon überzeugt sind, dass der Grund für den Abstieg in die B-Gruppe an der WM 1993 in München darin liege, dass Slettvoll de facto Sabotage betrieben habe.
Gilligan: Ich habe all die Gerüchte auch gehört. Aber sie sind unbegründet. Wir hätten beide einen besseren Job machen können. Aber Sabotage? Das ist absurd.
John und ich sind nicht so verschieden, wie man vielleicht denken könnte. Ich würde sogar sagen, dass wir Freunde sind. Ich habe viel von ihm gelernt.
SLAPSHOT: Sind Sie mit ihm in Kontakt geblieben?
Gilligan: Nein, ich bin sehr schlecht darin, Kontakt zu halten, das ist eine Schwäche meines Charakters. Ich denke auch oft, dass ich wieder einmal in die Schweiz reisen sollte. Bevor es zu spät ist, verstehen Sie?
Wenn ich lese, dass Paul-André Cadieux und Simon Schenk nicht mehr da sind, dann macht mich das traurig. Das waren Menschen, die ich sehr geschätzt habe. Und dann ärgere ich mich, dass ich mich nicht darum bemüht habe, öfter mit ihnen zu sprechen.
SLAPSHOT: Nach der WM 1993 wirkten Sie zwölf Jahre lang nicht mehr als Vollzeit-Cheftrainer, bis Sie 2005 die Rapperswil-Jona Lakers übernahmen und diese in den Playoff-Halbfinal führten. Wieso diese lange Pause?
Gilligan: Ich wusste nicht so recht, wie es mit meinem Leben weitergehen sollte. Ich wollte nicht, dass die Familie hinter meinem Job anstehen muss. Wo schulen wir die Kinder ein, wo liegt unser Lebensmittelpunkt? Nach dem Ende in Bern sind wir zurück in die USA gezogen.
SLAPSHOT: Sie haben unter anderem als Scout für die Los Angeles Kings gearbeitet. Wieso hat es nie mit einem Trainerjob in der NHL geklappt?
Gilligan: Ich habe das nicht aktiv gesucht. Ron Wilson hat mir mal ein Meeting mit Washington vermittelt, ich hätte Coach in der AHL bei Hershey werden können. Aber das College war mir lieber.
Es ist für mich sekundär, ob ich mit Wayne Gretzky arbeite oder einem x-beliebigen Spieler. Ich habe Freude, wenn ich mit wissbegierigen jungen Menschen zu tun habe. Und das war am College immer der Fall.
SLAPSHOT: Aus Bern verabschiedeten Sie sich, als der SCB 1998 kurz vor dem Konkurs stand. Wie belastend war das für Sie?
Gilligan: Das hat mich ziemlich mitgenommen, auch wenn es nicht meine Schuld war. Manchmal denke ich zurück und frage mich: Wieso bin ich nicht so lange in Bern geblieben, bis man mich dort nicht mehr wollte?
Als Sportchef war es paradiesisch, es ist wirklich keine Kunst, Spieler für diesen Klub zu begeistern. Man muss viel falsch machen, um in Bern keinen Erfolg zu haben. Jedenfalls zu meiner Zeit.
SLAPSHOT: Der SCB wollte Sie später zwei Mal zurückholen, sie sagten aber ab.
Gilligan: Wahrscheinlich war das ein Fehler. Wir waren nahe an einer Einigung. Aber ich hatte Bammel. Man sagt doch auch, dass man seine Ex-Frau nicht ein zweites Mal heiraten soll, oder? Davor hatte ich Respekt. Dass wir die Magie von früher nicht mehr finden. Aber eigentlich hätte ich es wagen sollen.
SLAPSHOT: Dem Schweizer Sport fehlt die Erinnerungskultur des nordamerikanischen Sports, sonst wären Sie regelmässig in Bern als Ehrengast zugegen. Stört Sie das?
Gilligan: Überhaupt nicht. Klar ist es schön, wenn eine ehemalige Meistermannschaft eingeladen wird und man gemeinsam in Erinnerungen schwelgen kann. Aber mir schuldet niemand etwas, auch keine Einladung. Der SCB und die Schweiz waren sehr gut zu mir und meiner Familie.
SLAPSHOT: Auch inflationsbereinigt steckt heute sehr viel mehr Geld im Eishockey als früher. Wie haben die Dollars den Sport verändert?
Gilligan: Wir sehen heute qualitativ das beste Eishockey der Menschheitsgeschichte. Die Zeit der Partykönige ist lange vorbei. Das Einzige, was mich stört, ist der zunehmende Egoismus.
Früher spielte man nicht zuletzt auch für die Jungs in der Kabine, es gab echten Teamgeist. Heute sehe ich mehr Spieler, die vor allem für sich selbst spielen.
Wobei… Ehrlich gesagt gab es die auch früher schon. In der WHA habe ich Weltklasse-Spieler erlebt, deren Ego so gross war, dass ich ihnen menschlich recht wenig abgewinnen konnte. Ich dachte mir: Wow, was für ein unsympathischer Typ.
Mit solchen Menschen möchte ich meine Zeit eigentlich nicht verbringen. Da ist es möglicherweise doch besser, dass ich es nicht in die NHL geschafft habe.
SLAPSHOT: Wie aktiv verfolgen Sie den Sport seit Ihrem Rücktritt noch?
Gilligan: Ich schaue viele Spiele. Weniger im Stadion, obwohl ich nur knapp 30 Minuten vom Stadion der Boston Bruins entfernt lebe. Wenn ein Spieler, den ich früher mal gecoacht habe, hier ist, gehe ich natürlich hin.
Aber es ist so bequem geworden, dass man jeden Match per Knopfdruck ansehen kann. Die Berge sind auch nicht weit weg, übrigens. Es mag nicht die Schweiz sein hier, aber es ist ziemlich gut.
***
Bill Gilligan
Geboren: 5. August 1954. Nationalität: USA. Teams als Coach: Merrimack College (NCAA, Assistent), Österreichische Nationalmannschaft, Graz 99ers, Rapperswil-Jona Lakers, UMass (NCAA, Assistent), Schweiz U20, Schweizer Nationalmannschaft, SC Bern, Klagenfurt.
Grösste Erfolge als Coach/GM: Meister mit Bern 1989, 1991, 1992, 1997. Österreichischer Meister 1985, 1986, 1987, 1988. 1998 WM-Bronze mit der U20 (unter anderem mit David Aebischer und Michel Riesen).
Teams als Spieler: EHC Chur, WAT Stadlau, Wiener EV, Cincinnati Stingers, Hampton Gulls, Brown University.